Wenn Wissen zur Ware wird*

Sam blickt gebannt auf den Bildschirm: Soeben hat der Zähler die 50.000er-Marke überschritten, und das noch drei Minuten vor dem Start. Normalerweise pendelt sich die Anzahl der Follower auf 65.000 ein. Wenn es so weitergeht, könnte es einen neuen Rekord geben. Das heutige Thema: „Soziologische Klassiker“. Der Countdown fängt an zu blinken, 3, 2, 1: „Herzlich willkommen auf dem Nostalgica-Kanal, schön euch wiederzusehen. Für alle die mich noch nicht kennen, mein Name ist Sam und ich stehe für: sophisticated – ambitious – and more.“ Sie beginnt mit der stolzen Ansage, erstmalig sieben Originalausgaben von Klassikern vorlegen zu können; die Informationsbeschaffungsabteilung hat ganze Arbeit geleistet. Ein Raunen geht durch die Online-Community. Der Zähler rattert nun fast hörbar.

Um den Spannungsbogen im Live-Video so lange wie möglich zu halten, hat Sam jedes der Bücher einzeln verpackt, um sie nacheinander auspacken zu können. Die Ab-frage per Mentimeter gibt ihrer Vermutung Recht: Max Weber soll den Anfang machen. Der Vortrag ist lange einstudiert, die zentralen theoretischen Argumente sind in Soundbites übersetzt. Als sie die Originalwerke schließlich in die Kamera hält, sind die wesentlichen Begrifflichkeiten schon gefallen: Was ist der Geist des Kapitalismus? Was führte zur Entzauberung der Welt? Wieso ist die wissenschaftliche Karriere ein Hasard? Mit ihren Erläuterungen ie- gen ihr die Herzen nur so zu. #Tamina, die bei den Klassikersitzungen immer dabei ist, postet die erste Quizfrage: „Welchen Kosenamen gab Max Weber seiner Frau Marianne?“ Die Community ergeht sich in der witzelnden Auflistung lieblicher Anreden. „Gut so“, denkt Sam, „das sorgt für Quote“.

Mit dem Ergebnis dieser Sitzung kann sie zufrieden sein. Der Impact liegt bei 2.300 neuen Followern – Austritte bereits abgezogen. Damit liegt die Reich- weite ihres Kanals im Vergleichssegment heute bei zwölf Prozent, das ist ihr persönlicher Rekord. Sam twittert ihren Erfolg, die Retweets und Likes überschlagen sich. Sam lehnt sich zurück, um mit dem wirklich spannenden Part loszulegen. Die Topic-Modeling-Analyse der knapp 7.000 Kommentare fördert allerdings nichts Überraschendes zutage. Kommentare und Rückfragen decken sich mit den bereits zentral gesammelten Diskussionspunkten zu den Werken von Weber, Tönnies, Durkheim & Co. Die lästige Aufbereitung der Themen-Graphs für die Dokumentation kann noch warten, beschließt Sam, um das Mittagessen vorzuziehen. Auf ihre Socialising-Anfrage reagieren immerhin zehn der Kolleg*innen positiv.

Sam sprintet zur Essensausgabe und besetzt als erstes den Tisch, um ja keinen potenziellen Socialising-Partner zu verpassen. Es sind neue Gesichter dabei, denn um diese Zeit ist sie normalerweise nie in der Kantine. Den Badges nach zu beurteilen, kommen vier von ihnen aus der Abteilung Trending Topics, zwei aus der Social-Media-Abteilung, eine aus der Health-and-Care-Abteilung und zwei aus der Supervising-Abteilung, die sie gut kennt. „Hallo, schön euch zu sehen.“ Die beiden leiten den Enhancement-Kurs, an dem sie seit zwei Wochen teilnimmt, um an ihrem Impact zu arbeiten. Direkt gegenüber nimmt jedoch jemand anders Platz. Sams Atem stockt, als sie erkennt, dass es Tom ist. Er ist einer der drei Geschäftsführer, und sie hat noch nie einen von ihnen direkt gesprochen. Sie muss sich nächstes Mal unbedingt die Zeit nehmen, die Socialising Response qualitativ zu sondieren, um auf ein solches Treffen besser vorbereitet zu sein. Tom lächelt sie wissend an. „Ich habe deine Kurve heute verfolgt. Zwölf Prozent sind ein ansehnliches Ergebnis.“ „Danke“, sagt Sam etwas verlegen. Nur sie weiß, dass inhaltlich kaum etwas rumgekommen ist, auch wenn die Zahlen stimmen.

„Wir möchten dir ein Angebot machen“, sagt Tom ohne große Umschweife. Sam spekuliert insgeheim, welches Angebot das sein könnte. Etwa ein fester Stundensatz? Ein Aufstieg ins Science Giants Team? Oder gar der legendäre Dreijahresvertrag, auf den sie wie jede andere hier am Institut hinarbeitet – womöglich doch keine Schimäre? „Wir möchten dich in unser neues Science-on-Demand-Programm auf- nehmen“, erklärt Tom in feierlichem Ton. „Unser neues Serviceangebot trifft den Nerv der Zeit. Die Anfragen steigen allerdings so rasant, dass wir mit dem Content nicht mehr hinterherkommen. Daher werden wir die Abteilung personell aufstocken. Du gehörst zu den Auserwählten.“

Sam dankt Tom für diese „tolle Entwicklungschance“, doch die Enttäuschung ist ihr sichtlich anzumerken. Vorsichtig legt sie nach: „Nur zum Verständnis, um welche Art von Anfragen handelt es sich genau?“ Sie hat von ihrem Kollegen und Freund Kim aus der Trending-Topic-Abteilung gehört, dass das Science-on-Demand-Programm die neue Cash- cow des Unternehmens werden soll. „Ob Vereinsjubiläum oder der 80. Geburtstag der Schwiegermutter, holen Sie die Wissenschaft zu sich nach Hause. Demographischer Wandel, Verkehrswende, Bildungsarmut oder Migration – unsere jungen Sozialwissenschaftler*innen erläutern Ihnen die Zusammenhänge und liefern Ihnen die passenden Argumente für jede gepflegte Konversation. Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren, wir sind offen für Ihre Wünsche.“ Wie auf Knopfdruck blinkt direkt hinter ihm die Werbung für Science on Demand auf dem Bildschirm auf. Sam überkommt ein mulmiges Gefühl. Tom wird nun konkret: „Der Nostalgica-Kanal trendet aktuell vor allem bei den zahlungskräftigen Einzelkunden, wie du weißt. Inhalte sind Statussymbole. Wir sehen in dir das große Potenzial, unseren sozialwissenschaftlichen Wissensservice in nutzerzentrierte Angebote zu verwandeln.“

Sam weiß: Wenn sie sich auf dieses Angebot einlässt, wird sie nicht nur ihre Community verlieren, die sie sich mühsam aufgebaut hat. Es bedeutet auch den Verlust ihrer Autonomie, was die Themensetzung betrifft. Von der persönlichen Unberechenbarkeit eines Auftraggebers mit Tendenz zur Übergriffigkeit, wie sie das bereits aus dem Chat kennt, mal ganz abgesehen. „Was wäre die Alternative?“, fragt sie leise, aber bestimmt, und schaut Tom dabei das erste Mal direkt in die Augen.

* Dieser Text entstammt meinem Beitrag aus der Jubiläumsausgabe der WZB-Mitteilungen vom April 2019:

Franzen, Martina (2019). Wenn Wissen zur Ware wird. WZB-Mitteilungen 163 „in touch. Forschung und Gesellschaft“, Sonderausgabe zu 50 Jahre WZB, S. 69-70.